Barmer Köpfe

Wahl, Ernst

 

Ernst Wahl war ein Freund von Vernetzung und Integration

Foto: Sammlung BVV

Einige Bürger der Barmer Südstadt haben am 8. Mai 1904 den Heidter Bezirks- und Bürgerverein gegründet. Unter ihnen war Salomon Ernst Wahl. Der Anlass waren schlechte Erfahrungen mit städtischen Behörden.

Als bis heute gültiges Ziel formulierten die Initiatoren: „Die allgemeinen Interessen des Bezirkes (heute: Quartier) Heidt zu vertreten. Der Verein will Mittler sein, zwischen der Bevölkerung im Bezirk und den amtlichen Stellen. Die Liebe zu Heimat und Natur und der Gemeinschaftssinn sollen gepflegt werden. Der Verein steht auf überkonfessioneller und überparteilicher Grundlage.“ Der Bezirksverein hatte bald eine stattliche Mitgliederzahl. Die vom HBV vor 1914 behandelten Aufgaben waren beispielsweise Verhandlungen mit der Barmer Stadtverwaltung betreffend den Ausbau der Clefer Straße (heute: Am Clef), die Anlage von Haltepunkten der Straßenbahnen, die Beleuchtung von öffentlichen Straßen und Plätzen. Gründungsanlass, Ziele und konkrete Aufgaben der ersten Jahre kommen uns über 100 Jahre später sehr bekannt vor. Es sind in ihrem Kern immer aktuelle Themen eines Bürgervereins, einer „permanenten Bürgerinitiative“.

Treibende Kraft war bei der Gründung Salomon Ernst Wahl, der zum ersten Vorsitzenden gewählt wurde. Geboren am 27. Juni 1873 in Barmen, führte er in der dritten Generation das große Barmer Textilkaufhaus S. (Saul) & R. (Raphael) Wahl. Seine Biografie spiegelt exemplarisch das Schicksal vieler Deutscher jüdischen Glaubens wider. Wie sein Vater, Kommerzienrat Hermann Wahl, einer der Gründungsväter der Barmer Bergbahn, war er Vertreter des liberalen, völlig assimilierten deutschen Judentums. Ein jüdischer Deutscher, wie andere evangelische oder katholische Deutsche waren. Die Wahls, die 1923 das Ibach’sche Haus an der Richard-Wagner- (heute: Joseph-Haydn-) Straße 21 an den Barmer Anlagen erworben hatten und dort mit ihren drei Söhnen Karl-Hermann (geboren 1907), Max Otto (1910) und Hans-Rudolf (1913) lebten, gehörten zum klassischen Großbürgerturm (Hohe Gewinne im Geschäft, religiös und kulturell liberal, „assimiliert“, Förderer des Theaters, der Künste und von Bildungseinrichtungen) jener Zeit, zu den wohlhabendsten Bürgern Barmens, haben aber ihr Ansehen überschätzt. Gern hätten sie am Toelleturm neu gebaut und weniger als die 27 Räume gehabt, aber eine staatlich verordnete Bausperre ließ dies nicht zu. Da sie in den Augen der christlich geprägten Gesellschaft „Juden“ waren und blieben, hatten Ernst und Bertha Wahl nur wenige gesellschaftliche Kontakte zu nichtjüdischen Familien. Der Barmer Tennisclub war ausschließlich nichtjüdischen Mitgliedern vorbehalten. Selbst Ernst Wahls Mitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer seit 1916 und des Barmer Verschönerungsvereins von 1895 bis 1933, zeitweise sogar Vorstand, reichten als „Eintrittskarte“ in den Tennisclub am Toelleturm nicht aus.

Nach Vater Hermanns Vorbild war auch Ernst Wahl stark ehrenamtlich tätig. Neben der Arbeit im Heidter Bezirksverein war er bis zu seinem von den Nationalsozialisten erzwungenen Ausscheiden in Vorständen etlicher Vereine engagiert, so auch im Barmer Verschönerungsverein, der zu seinen Ehren einen vom Höhenweg abzweigenden Weg im Barmer Wald nach Ernst Wahl benannt hat. In einem Brief an seinen Sohn Karl-Hermann vom 28. Mai 1933 schrieb er: „Aus den Vorständen aller oder fast aller Vereine und Verbände bin ich ausgeschieden, teils freiwillig „rechtzeitig“, wie gestern aus dem Verschönerungsverein, teil unfreiwillig. Und so scheidet man aus vielem, woran man Jahrzehnte gehangen und was einem lieb war.“ Das im Werth befindliche traditionsreiche Textilkaufhaus S. & R. Wahl wurde nach einem Totalausverkauf im Mai 1934 liquidiert. Dazu hielt Karl-Hermann Wahl für die Nachwelt fest: „Als ich im Herbst 1932 nach meinem Doktorexamen nach Barmen zurückkam, ging es mit dem Unternehmen rapide bergab. Ich stimmte mit meinem Vater in fast keinem einzigen Fall mit Maßnahmen zur Verbesserung der Lage überein. Deshalb verließ ich Barmen.“ Die beiden jüngeren Brüder Max-Otto und Hans-Rudolf arbeiteten bis zur Schließung im elterlichen Geschäft. Judenboykott, Wirtschaftskrise, Verlagerung des Einzelhandels nach Elberfeld und zu viel Fremdkapital verfehlten ihre Wirkung im Sinne der Nazis nicht. Ernst Wahl war Vorsitzender der Repräsentanz der Synagogengemeinde Barmen in der Scheurenstraße.

Weil Ernst Wahl nicht emigrieren konnte, wurde er am 22. Juli 1942 zusammen mit seiner Frau Bertha vom Bahnhof Steinbeck ins Konzentrationslager („Altersghetto“) Theresienstadt bei Prag deportiert, wo er am 12. März 1944 71-jährig „umkam“. Ein Opfer der dort absichtlich herbei geführten Zustände aus Hunger, Kälte und Fehlen von Medikamenten. Seine Frau wurde am 19. oder 23. Oktober 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert und dort vermutlich vergast. Hermann Josef Brester: „Die Behandlung und Ermordung Bertha und Ernst Wahls, dieses um seine Vaterstadt so hochverdienten Barmer Bürgers, zeigen an einem konkreten Beispiel sehr deutlich die barbarischen Folgen auf, welche eintreten, wenn eine so absurde Idee, wie der biologische Rassismus der Nationalsozialisten, zur Macht gelangt.“

Vor dem einstigen Wohnhaus in der Joseph-Haydn-Straße (früher: Richard-Wagner-Straße) wurden zur Erinnerung so genannte „Stolpersteine“ ins Gehwegpflaster versenkt.

Lesetipps:

„Die Wahls in Barmen“, ein jüdisches Familienschicksal in Briefen, Ulrich Föhse, in: Klaus Goebel (Hg.): Unter Hakenkreuz und Bombenhagel, Wuppertal 1989.

„Hier wohnte Frau Antonia Giese“, Geschichte der Juden im Bergischen Land, Essays und Dokumente, Trägerverein der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V.  (Hg.), Wuppertal 1997.

„Barmer Südstadt“, Bergbahn, Toelleturm und Heidt, Hans Joachim de Bruyn-Ouboter (Hg.), Verlag Müller + Busmann, Wuppertal 1996.

„Der Heidt, seine Geschichte und seine Entwicklung“, Vortrag, gehalten von Paul Herzog im Mai 1911, Nachdruck Barmen 1979.